Von der Sachlichkeit zur Empfindsamkeit der Verse
Martina Weber aus Frankfurt ist aufmerksamen Lyriklesern schon länger ein Begriff. Seit Jahren veröffentlicht sie ihre Gedichte in Anthologien und Literaturzeitschriften, hat den Heinrich-Vetter-Preis und den Georg K. Glaser-Förderpreis gewonnen, sowie das 2009 erstmals ausgeschriebene Frankfurter Autorenstipendium. Es gibt nur wenige Dichter, bei denen man ab einem gewissen Punkt ungeduldig auf eine Buchveröffentlichung wartet, damit man der Vereinzelung entfliehen und tiefer in ihr Werk eintauchen kann. Martina Weber ist so eine Dichterin. Nun erscheint pünktlich zu Leipziger Buchmesse ihr Debüt „erinnerungen an einen rohstoff“ im Poetenladen Verlag.
„Poetisches Verstehen schließt das Wunder mit ein, (…) einen Gleichklang zu finden, der die Differenzen (…) positiv ausfüllt“, schreibt Kurt Drawert im Nachwort, ein Richtig oder Falsch gebe es nicht, und daraus lässt sich lesen: Es gibt auch kein Nichtverstehen, auch dann nicht, wenn ein Gedicht erstmal schwierig scheint. Gedicht und Leser müssen, so darf man das interpretieren, unvoreingenommen zueinander finden. Das ist ein Text, der dringend in den Schulunterricht gehört, ebenso wie die Gedichte, mit denen er sich befasst. Denn tatsächlich versteht man einige von Martina Webers Gedichten nicht auf Anhieb, und manche geben auch nach mehrmaligem Lesen weiterhin Rätsel auf. Um genau zu sein: Sprachlich äußerst prägnante Rätsel, deren Rätselsein ihren Reiz auch deshalb ausmacht, weil das Buch eine inhaltliche Entwicklung zu durchlaufen scheint. Blitzt das emotional-greifbare in der ersten Hälfte nur bruchstückhaft auf zwischen Versen einer scheinbar rationalisierend-technischen Weltsicht, so nimmt es in der zweiten Hälfte mehr und mehr Raum ein, lässt Anknüpfungen zu ebenso wie Selbstreflexion.
Bevor also nun wieder die Germanisten ankommen und ihre eigenen Vorstellungen dessen, was die Autorin da tut, als allgemeinverbindliche Wahrheit festnageln, darf man den Gedichten hemmungslos begegnen und sie genießen. Es wird sie schon jeder verstehen – auf seine ganz eigene Weise.
Drawert interpretiert den titelgebenden „rohstoff“ als etwas Innerliches des Lebens, als ein Fühlen und Sein im Jetzt, das in der heutigen Welt immer weiter an den Rand gedrängt wird, und angesichts der eben erwähnten Entwicklung der Gedichte (sowohl inhaltlich als auch formal) bietet sich diese Lesart an. Es sind die Momente von unverstellter Natur und Natürlichkeit und des Fühlens, die immer wieder hervorblitzen, später aber auch der melancholische Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen, in denen immer die Enttäuschung zu wohnen scheint und daher das Festhalten (auch das Erinnern) einzelner Glücksmomente. In einem der stärksten Gedichte des Buches heißt es:
die schatten der fensterkreuze gleiten
täglich die wand entlang
sie hinterlassen keine spur
in deinem gedächtnis
wo du zu leben hofftest
da scharren fremde hunde
ein wolkenblauer kanister
halb verpackt auf dem nachttisch
sind die geschichten die du erfindest
Die Sehnsuchtsfarbe blau taucht öfter auf, bleibt aber immer unscheinbar, hält sich im Hintergrund. Über allem steht die Frage, ob das, was Wörter ausdrücken, überhaupt real ist, oder ob die Wörter das einzig Reale sind. Vielleicht sind sie auch nur der verzweifelte Versuch, Ungreifbares greifbar zu machen. Und vielleicht kann die Lyrik dieses Dilemma viel effektiver klären als die Sprachwissenschaft es vermag. Mit „erinnerung an einen rohstoff“ legt Martina Weber ein vielschichtiges und faszinierendes Debüt vor, das vor allem zeigt: Man hat diese Autorin in den letzten Jahren nicht über-, sondern sogar noch unterschätzt.
Gerrit Wustmann