Stephen KingStephen King ist Kult, Stephen King hat 400 Millionen Bücher in 40 Sprachen verkauft und sich einen Ruf als moderner Edgar Allan Poe erarbeitet – dennoch enttäuschte er in den letzten Jahren so manches Mal. Sein neues Monumentalwerk „Under The Dome“ (dem der Heyne-Verlag den denkbar dämlichen Titel „Die Arena“ verpasst hat) lässt all die Patzer auf einen Schlag vergessen…

Man kann sogar noch weiter gehen und sagen: Dies ist Kings bester Roman. Er vereint darin all das, was er am besten kann: sich in Kinder hineinversetzen („es“), die menschliche Psyche sezieren („Shining“, „Misery“), die kleinstädtische Kleinbürgerdoppelmoral bloßstellen („In einer kleinen Stadt“). Vor allem aber ist es sein bisher politischster Roman, der ganz offensichtlich aus dem Trauma der Bush/Cheney-Jahre heraus verfasst wurde.

Im Zentrum steht die Kleinstadt Chester’s Mill, Maine, die eines Tages aus heiterem Himmel unter einer unsichtbaren Kuppel – einer undurchdringlichen Barriere – eingeschlossen wird. Woher die Kuppel kommt ist zweitrangig. King nutzt sie als symbolisches Vehikel, das er dem Trash-Genre entleiht, um ein Reagenzglas zu erschaffen: Eine Dorfgemeinschaft, die völlig von der Außenwelt abgeschlossen wird.

Was dann geschieht kennen wir alle aus den Fernsehnachrichten: Der korrupte zweite Stadtverordnete Jim Rennie (von Beruf Gebrauchtwagenhändler) schickt seine etwas dümmliche Marionette Andy Sanders, den ersten Stadtverordneten, vor. Der verheißt den Bürgern, angereichert mit Bibelzitaten, schwierige Zeiten. Derweil spinnt Rennie sein intrigantes Netz, kontrolliert die Wirtschaft, erlässt repressive Notverordnungen und legt sich eine Privatarmee aus tumben Unterschicht-Jungs zu, die nicht allzu augenzwinkernd als „Blauhemden“ bezeichnet werden – sie tragen blaue Armbinden. Als eine Handvoll Bürger, denen Moral und Gerechtigkeit noch etwas bedeuten, eine Art Opposition bilden, inszeniert Rennie kleine Terroranschläge (er lässt beispielsweise die Redaktion der einzigen Zeitung niederbrennen) und schiebt sie seinen Gegnern in die Schuhe. Das Konzept geht auf: Die Mehrheit der Bürger schluckt die Schuldzuweisungen und kommt nichtmal auf die Idee, die offizielle Version der Ereignisse zu hinterfragen. Innerhalb nur weniger Tage eskaliert die Situation, die stellenweise an William Goldings „Herr der Fliegen“ erinnert.

King beschreibt minutiös, wie eine Diktatur entsteht, und er zeigt es, indem er ganz nah bei seinen Figuren bleibt. Das sind Figuren, die jeder kennt, mit ihren mannigfaltigen Alltagsproblemen, mit ihrem Schwanken zwischen Moral und Eigeninteresse. Er zeigt, was mit Macht passiert, wenn kein Souverän mehr da ist, der sie kontrolliert. Er führt all jenen, die glauben, dass „so etwas nicht mehr passieren kann“ ihre Naivität vor Augen. Ein Buch, dem man sich schon deswegen nicht entziehen kann, weil man sich pausenlos fragt, wie man selbst auf die Ereignisse reagiert hätte. Ein Buch, das den Zweifel kultiviert und anhand eines Mikrokosmos den Irrsinn und die Verlogenheit der Weltpolitik portraitiert.

Als Motto stellt King dem Buch einen Song von James McMurtry voran, in dem es heißt: „It’s a small town, son / And we all support the team“. Bezeichnend.

Dass dieser überbordende Roman zudem ein Pageturner erster Güte ist, der die rund 1300 Seiten auf gefühlte 150 Seiten zusammenschrumpfen lässt, ist mehr als eine Dreingabe. Hinter dem Namen King steckt ein präziser Beobachter, der den Dreck unter dem Teppich hervorholt – dahin, wo er von allen gesehen und wahrgenommen werden kann. All jene, die anlässlich der Verleihung des National Book Award – einer der höchsten Ehrungen für amerikanische Schriftsteller – vor sieben Jahren die Nase rümpften, sollten spätestens jetzt verstummen.

Gerrit Wustmann

Stephen King: Die Arena